“Ich denke, also designe ich”
Der Modemacher Lutz stellt die Sinnfrage, wenn er entwirft. Zweiter Teil unserer Serie Neue deutsche Designer im Ausland
Paris, 1. Arondissement, gegen elf Uhr morgens: eine ehemalige Dreizimmerwohnung mit Blick auf die verregnete Rue de Rivoli. In jedem Zimmer hier, im zweiten Stock, konzentriert man sich auf eine andere Sache. Erstes Zimmer: ein großer weißer Tisch, an dem abwechselnd Französisch, Italienisch und Japanisch gesprochen wird. Zweites Zimmer: eine Hand voll Japaner steht vor mehreren Kleiderstangen mit sportlicher Abendgarderobe. Drittes Zimmer: Stühle vor einem Videorecorder und ein Stück der deutschen Band Stereo Total, das aus dem Lautsprecher eines Fernsehers kommt.
Es gibt aber noch eine vierte Tür, dahinter steht ein unaufgeräumter Schreibtisch (keine Ahnung, wie die den in diese 0,3 Quadratmeter gekriegt haben). Hier sitzt ein Mann, der aussieht wie ein junger Philosophieprofessor und der sich folgende Fragen stellt: Warum sind bestimmte Sachen so, wie sie sind? Muss das so sein? Kann man das nicht auch anders machen?
Nein, hier findet kein Dekonstruktivismus-Seminar statt – es ist das Arbeitszimmer des deutschen Modedesigners Lutz Hueller, der gerade beginnt, seine Kollektion zu erklären. Dieses kleine Versteck in seinem Showroom ist im Moment der einzige Ort, wo keine Kleider hängen, Japaner sitzen oder ein Video läuft.
Der 35-Jährige aus Remscheid trägt einen Vollbart und ein T-Shirt, darüber eine seiner eigenen Strickjacken. Er sieht unprätenziös aus und wirkt extrem konzentriert, auch wenn ständig die Tür aufgeht und jemand etwas von ihm wissen will. Kurz und freundlich antwortet er auf Französisch oder Italienisch, je nachdem, wer gerade wieder dasteht (seine Mitarbeiterin Stina ist Italienerin, sein Partner David Franzose). Manchmal muss er aufstehen, wegen eines dringenden Telefonats im Nebenraum oder um Kunden zu begrüßen, die seine Kollektion sehen wollen. Trotzdem, kein Stress.
Lutz verbessert gern Dinge, die unpraktisch sind oder stören Ich schau mir an, wie Leute sich anziehen, was sie zu unterschiedlichen Tageszeiten oder Gelegenheiten tragen, und versuche, das zu verändern, erklärt er und klingt dabei logischer als ein ganzes Buch von Derrida. Lutz – sein Vor-, Künstler- und Firmenname – spielt mit bekannten Stilmitteln, er nimmt sie auseinander und setzt sie zu einer eigenen, neuen Sprache zusammen.
Dabei findet er immer wieder Dinge, die er verbessert, weil sie unpraktisch sind oder stören.
Was mich an Mänteln zum Beispiel beim Autofahren immer genervt hat: Sobald man seine Arme bewegen will, rutscht der ganze Mantel mit, und im Sitzen ist man total unbeweglich … sagt er und wird unterbrochen. Die Tür geht auf, ein Telefongespräch. Lutz entschuldigt sich. Schnell ein prüfender Blick in die Unterlagen – stimmt, das mit dem Mantel hatte er schon in der ersten Kollektion gelöst durch elastische Baumwollstücke zwischen Arm und Schulter.
Als Lutz nach zehn Minuten wiederkommt, demonstriert er die Lösung einer anderen unpraktischen Sache: Der Mantel aus seiner neuen Kollektion hat herausnehmbare Innentaschen, die man sich wie Kinderhandschuhe umhängen kann.
Jetzt müsse man, wenn man den Mantel an der Garderobe abgeben wolle, endlich nicht mehr alles aus den Taschen holen und einzeln mit sich herumtragen, Geld, Telefon, Zettel, Autoschlüssel …
Lutz arbeitet unabhängig, ohne Firmen im Hintergrund. Es gibt niemanden, der uns sagen kann, was, wie viel und an wen wir verkaufen müssen, sagt er.
Seine künstlerische Freiheit ist ihm so wichtig, dass er sich sein Existenzminimum als Freelance-Designer mit zwei Strickkollektionen für ein bekanntes italienisches Label verdient. Während der ersten zwei, drei Saisons sind die Leute interessiert, weil etwas neu ist. Wenn man dann nicht aufpasst, ist es schnell vorbei mit dem Interesse. Deswegen sind wir sehr vorsichtig. Bei jeder Kollektion kommen nur ganz wenige neue Kunden hinzu, sagt Lutz. 30 Läden weltweit, die seine Entwürfe verkaufen, sind ihm momentan genug.
Dann versichert er, es ginge ihm nicht darum, Trends zu entwerfen, sondern um eine Art, sich anzuziehen, und das könne man nur durchsetzen, wenn man langsam und genau arbeite. Außerdem wolle er nicht jede Saison etwas komplett Neues erfinden. Das macht keinen Sinn. Wenn du ständig auf der Suche nach etwas Neuem bist, kannst du dich an nichts mehr festhalten. Dabei sind ja die Sachen, die einen wirklich berühren, eigentlich Dinge, die ein Leben lang bleiben. Ich muss Sachen machen, die mich berühren, dazu ist der Job zu extrem, zu hart und zu nervig.
Eine weitere Unterbrechung – neue Ladenbesitzer sind eingetroffen, die seine Kollektion sehen wollen. In dem anderen Zimmer schaut sich eine offenbar schwerhörige Japanerin das Video der Show an. Man kann es an der Musik erkennen: Ideal, Miss Kittin, Crossover, Dusty Springfield, Stereo Total. Das ungefähr war der Soundtrack der Herbst-/Winter-Show am 9. März außerhalb des offiziellen Prêt-à-porter-Kalenders in Paris. Dort, im Innenhof der Ecole Nationale Supérieure des Beaux Arts, zeigte Lutz seine fünfte Kollektion und konzentrierte sich auf sein Thema, elegante Formen aus der Abendgarderobe mit den Themen Freizeit und Sport zu kombinieren.
Den glänzenden Kragen einer Abendjacke etwa, die Streifen einer Smokinghose oder den Stoff eines Abendkleides präsentierten seine Models an T-Shirts, Shorts oder Sportblousons. Trainingshosen waren aus schwarzem Anzugstoff, Kleider und Strickjacken sahen aus wie Parkas. Grob gestrickte Faltenröcke mit Sweatshirts hingen an langen Trägern. Darunter hatten die Mädchen, die Ohrringe aus echten Blumen trugen, zum Beispiel silberne Kniebundhosen aus Windjackenknitterstoff, kombiniert mit schmutzigem Rosa, Beige oder Sweatshirt-Grau. Dazu Schals, die gleichzeitig Hosenträger, Perücke oder Gürtel waren.
Das Deutsche an seiner Arbeit ist für ihn Rigorosität und Logik Das Model Alex präsentierte gegen Ende der Show in grauem Chiffonrock, Woll-Leggings und goldenen Sandalen ein Schwarzweißporträt der jungen Hildegard Knef – auf einem T-Shirt-Hemd. Alex ist ebenfalls Designerin und hat mit Lutz in London studiert. Man kennt sie von dem Bild Alex and Lutz in the Trees, das der Turner-Preisträger Wolfgang Tillmanns 1992 fotografiert hat. Beide gehören zu den besten und ältesten Freunden von Lutz. Sie kennen sich aus Remscheid, dort sind die drei zusammen in die Schule gegangen.
Lutz hat inzwischen wieder Platz genommen in seiner Kammer und erklärt die Sache mit der Knef. Ich fand die so toll, weil sie einfach keine Angst hatte, sich in die Nesseln zu setzen, immer frech war und Sachen gesagt hat, die den Leuten nicht gepasst haben. Damit hat die ihre Kariere regelmäßig aufs Spiel gesetzt. Ich habe auch das Buch gelesen, in dem sie ihre deutsche Geschichte erzählt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Das hat mir extrem imponiert, erzählt Lutz und ergänzt: So etwas gibt es in Deutschland nicht mehr.
Auf die Frage, ob es etwas Deutsches in seiner Art zu arbeiten gebe, antwortet er: Rigorosität, Logik und das Bedürfnis, dass alles irgendwie Sinn macht. Darüber wundern sich zum Beispiel die Italiener in den Fabriken.
Aber eigentlich sei er sich nicht sicher, ob das wirklich Teil der deutschen Kultur sei oder doch nur etwas Persönliches, das mit seiner Erziehung und Erfahrung zu tun habe. Remscheid und seine Eltern – der Vater handelt mit gebrauchten Werkzeugmaschinen, seine Mutter ist Hausfrau – hat Lutz mit 21 verlassen. Das war 1988, als er nach Hamburg zog und dort zwei Jahre lang eigentlich nur ausging, unter anderem mit Wolfgang Tillmanns und Alex.
Kleider hat er sich nie genäht, als er klein war. Nähmaschinen, Sticheleien und dieser ganze Kram – dazu hatte ich nie Lust. Populäre Kultur hat mich immer interessiert, alles was vom Hier und Jetzt spricht. Dadurch bin ich dann irgendwie in die Mode gerutscht. Was ihn an der Mode gereizt hat, war das Ding von Identität, sagt Lutz. Man kann vulgär, intellektuell und extrem sexy sein. Da muss sich nichts ausschließen. Ich finde es viel interessanter, wenn man Leute nicht mehr beurteilen kann, indem man auf ihre Kleidung schaut. Wieder so eine Sache, die ihn nervt. Ich will nicht einen Anzug anziehen, um den Leuten zu zeigen, dass ich arbeiten kann, sagt Lutz, und jetzt geht es in das Zimmer, in dem er seine 38 neuen Outfits erklärt.
Man will ja eigentlich gar nicht vorgeschrieben bekommen, wie man etwas anzuziehen hat, man will es ja eigentlich selbst tun, meint er und demonstriert vor den Kleiderstangen, wie man einen seiner Röcke auf fünf unterschiedliche Arten tragen kann.
Damals in Remscheid lief Lutz immer zum Bahnhof, um englische Zeitungen zu kaufen. Diese Welt hat mich extrem fasziniert. Die haben Kleidung immer anders benutzt und damit eine Sprache entwickelt, die Anfang der Achtziger extrem aufregend war, sagt er. Ein Grund übrigens, warum er 1990 nach London ging und seitdem Ausländer ist. Ich komme zwar immer wieder gerne nach Deutschland zurück, weiß aber nicht, ob ich dort noch wohnen könnte. Immer wenn ich länger da bin, sind die Dinge, die einem nicht gefallen, so nah, dass man sie nicht mehr ignorieren kann, weil man ja selbst ein Teil davon ist. Das sei im Ausland anders, meint er, dort könne man als Fremder nie ganz Teil einer Kultur werden und sich deshalb einfach nur das aussuchen, was man schön findet.
Als Deutscher gehörst du da nicht hinein, und das gibt dir Freiheiten, die zum Beispiel Engländer in ihrem rigiden Klassensystem unter sich nicht haben.
Letztendlich bin ich immer ein Außenstehender und werde auch so behandelt.
Ich finde es toll, Ausländer zu sein, sagt Lutz.
Nach Deutschland kam er das letzte Mal zur Beerdigung von Hildegard Knef, erzählt Lutz und weist jetzt den Telefonhörer, der ihm wieder mal gereicht wird, zurück. Das war extrem ergreifend. Ich stand in der Kälte vor der Kirche, in der der Gottesdienst übertragen wurde. Wie dann ihre Stimme so komisch über den Platz wehte, fingen auch noch die ganzen Berliner Omis an zu heulen.
Als Lutz in der Tür steht, durch die man wieder auf die verregnete Rue de Rivoli kommt, erklärt er noch etwas auf dem Stadtplan, der neben dem Eingang hängt. Haben wir für alle Ausländer aufgehängt!, sagt Lutz und verschwindet wieder in dem mit Sicherheit kleinsten Seminarraum von ganz Paris.
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